29.05. - 06.07.2019
VERENA ANDREA PRENNER / MICHA WILLE. Heterotopia
Unser Leben spielt sich gewöhnlich an Orten ab, deren Ablauf regeln wir verinnerlicht haben. Aber manchmal versetzen wir uns frei- oder unfreiwillig in andere Systeme. Heterotopien nennt Michel Foucault diese Anderswelten, die nach besonderen Regelwerken funktionieren. Hallenbäder, virtuelle Gaming-Welten oder Bibliotheken sind Beispiele dafür, aber auch Friedhöfe, Gefängnisse oder psychiatrische Kliniken. Heterotopien sind nach Foucault wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.
Realisierte Utopien? Das seien eigentlich Orte, wo alles gut ist, so Walter Russell Mead. Im Gegensatz zu den tristen Dystopien. Und in Heterotopia ist sowieso alles irgendwie anders.
Die künstlerischen Arbeiten von Verena Andrea Prenner und Micha Wille setzen sich mit Welten auseinander, die nicht der Norm entsprechen. Als Soziologin bezieht Prenner eine ihr unbekannte Stätte für längere Zeit und wird Teil der dortigen Gesellschaft. So entstand im mittlerweile 60 Jahre alten Dheisheh Refugee Camp südlich von Betlehem „Camping“, eine Serie inszenierter Fotografien. Der dortige Alltag wird von der muslimischen Kultur und Religion beeinflusst, einem Leben zwischen Haram und Halal, dem Verbotenen und dem Erlaubten. Der individuelle Spielraum dazwischen ist minimal, besonders für Frauen. Verena Andrea Prenners Ankunft als alleinstehende Frau wurde von den Lager-Bewohnern mit großem Erstaunen gesehen. Anfangs wurde sie als israelische oder palästinensische Spionin eingeordnet, und natürlich als „billig“.
Im Juni 2014 begann der Krieg im Gazastreifen, das öffentliche Leben erstarrte, täglich kam es zu Protesten und Militäroperationen im Lager. Leid, Elend und Tod waren allgegenwärtig. In dieser Atmosphäre teilte Prenner mit der Gemeinde jene Trauer, die sie in den Jahren zuvor erlebt hatte, als sie endlose Tage auf Intensivstationen in Krankenhäusern und Spezialkliniken bei ihrem schwerkranken Freund verbrachte. Das Herz, Symbol des Lebens, stand in dieser Zeit dramatisch im Mittelpunkt und wird auch in ihrer künstlerischen Serie aufgegriffen.
In Micha Willes Kunst ist ihre Erst-Ausbildung, die Linguistik, ebenfalls stark spürbar. Ihre Malerei soll so funktionieren wie gute Literatur, so der Anspruch der Tiroler Künstlerin. Die Erzählung nimmt in ihren Werken eine starke Rolle ein, aktuelle gesellschaftspolitische Themen werden hinterfragt und der ständige Fluss unserer Wirklichkeits-Wahrnehmung verdichtet. Micha Wille sagt: Meine Arbeiten veranschaulichen zumeist sehr nicht-neutrale Kommentare zu jüngeren soziokulturellen Phänomenen. Ich reproduziere also nicht das, was ich als objektive Realität wahrnehme, sondern verarbeite bereits bestimmte Aspekte davon und ironisiere auch mich, das Szenario oder die Protagonisten.
Beispielsweise wird die Jagd nach Anerkennung auf sozialen Plattformen auf Willes großformatigen Gemälden zitiert. Neben dem Fetischismus für teure Autos und Prahlereien unter Penthouse-Besitzern rührt Micha Wille mit großer Lust auch in der Art World um. Dabei handelt es sich um eine besonders widersprüchliche Heterotopie, deren Umklammerung die Beteiligten gleichzeitig nähren und ersticken kann. Und wenn man sich Micha Willes Bildtitel genauer durchliest, wird man vor der Gefahr deutlich gewarnt:
Micha Wille says she is a bad painter which means you are all screwed:)
Quellen:
Foucault, Michel: Andere Räume (1967), in: Barck, Karlheinz (Hg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik; Essais. 5., durchgesehene Auflage. Leipzig: Reclam, 1993, S. 39.
Mead, Walter Russell (Winter 1995–1996). "Trains, Planes, and Automobiles: The End of the Postmodern Moment", in: World Policy Journal 12(4): 13–31. JSTOR 40209444.
Usually our life is lived in places where we have internalized the rules. But sometimes, voluntarily or not, we relocate into other systems. Michel Foucault calls these other worlds that function according to special sets of rules “heterotopias.” Indoor pools, virtual gaming worlds, or libraries are examples of heterotopias, as are cemeteries, prisons or psychiatric clinics.
The artistic works of Verena Andrea Prenner and Micha Wille deal with worlds that do not correspond to the norm. As a sociologist, Prenner moves to a place that is unfamiliar to her and stays long enough to become part of the society there. This is how “Camping,” a series of staged photographs, was produced in the Dheisheh Refugee Camp south of Bethlehem, which is now 70 years old. Everyday life there is shaped by the Islamic culture and religion, a life between haram and halal, the forbidden and the permissible. In June 2014, war broke out in the Gaza strip, public life came to a standstill, there were daily protests and military operations in the camp. Suffering, misery and death were omnipresent. In this atmosphere, Verena Andrea Prenner shared with the community the sorrow she had experienced over the previous years while spending endless days in the intensive care units of hospitals and specialty clinics with her severely ill boyfriend. This was a time when the heart, a symbol of life, was dramatically central and made its way into her artistic series.
Micha Wille’s initial education in linguistics is clearly evident in her art. Her painting is supposed to function like good literature, according to this Tyrolean artist. Storytelling takes on a large role in her works. Current sociopolitical issues are examined and the constant flow of our perception of reality is condensed. For example, the hunt for recognition on social platforms is cited in Wille’s large-format paintings. In addition to the fetishizing of expensive cars and the ostentation of penthouse owners, Micha Wille also loves to stir up the art world—an especially contradictory heterotopia whose embrace can be both nourishing and suffocating. And a closer look at the title of Micha Wille’s picture provides a clear
warning:
Micha Wille says she is a bad painter which means you are all screwed:)
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